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Dr. Sebastian Sons
In den letzten Monaten wurden die Beziehungen zwischen der arabischen Welt und Deutschland durch den Israel-Gaza-Krieg, der nach den Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 mehr als 34.000 palästinensische Opfer und 1.200 israelische Todesopfer zur Folge hatte, vor ernsthafte Herausforderungen gestellt.
In diesem Zusammenhang ist das historische Verhältnis Deutschlands zu Israel zu einem heiklen Streitthema geworden: Bereits 2008 in der israelischen Knesset bezeichnete die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel die Sicherheit Israels als Deutschlands „Staatsräson“, was Bundeskanzler Olaf Scholz fünf Tage nach dem Angriff der Hamas auf Israel wiederholte: „In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz: fest an der Seite Israels. Das ist es, was wir meinen, wenn wir sagen, dass die Sicherheit Israels das oberste Motiv für das Handeln des deutschen Staates ist und bleiben wird“, sagte Scholz. Das Engagement für Israel ist mehr als nur ein politisches Ziel, es ist ein Kernbestandteil des Selbstverständnisses deutscher Politik. Es wird auch ausdrücklich im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung erwähnt, die aus der Sozialdemokratischen Partei (SPD), den Grünen und der Liberalen Partei (FDP) besteht.
In Teilen der arabischen Welt wird die Haltung Deutschlands zum Gaza-Krieg als pro-israelisch und voreingenommen angesehen. Infolgedessen sind die politischen und zivilgesellschaftlichen Beziehungen von Polarisierung und Stigmatisierung geprägt, was zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen Deutschland und seinen arabischen Partnern geführt hat. So haben beispielsweise einige arabische Partnerorganisationen deutscher politischer Stiftungen beschlossen, die Arbeitsbeziehungen zu ihren deutschen Partnern aufgrund der unterschiedlichen Positionen zur Rolle Israels im Gaza-Krieg einzuschränken oder ganz einzustellen. Deutschland hat ein „massives Glaubwürdigkeitsproblem“. Außerdem wurden die Aussagen hochrangiger deutscher Beamter und Regierungsmitglieder kurz nach der Eskalation der Spannungen am 7. Oktober als Ausdruck der „doppelten Standards“ Deutschlands interpretiert, da sie die Augen vor dem Leid der Palästinenser verschließen und hauptsächlich eine pro-israelische Position einnehmen.
Der Gaza-Krieg hat die Glaubwürdigkeit der deutschen Regierung in weiten Teilen der arabischen Welt erschüttert
In den letzten Monaten ist die innerdeutsche Debatte über das militärische Engagement Israels vielfältiger und nuancierter geworden, was sich in einer differenzierteren Bewertung des Begriffs „Staatsräson“ zeigt. Im März waren 50 % der deutschen Öffentlichkeit der Meinung, dass die israelischen Militäraktionen in Gaza „zu weit gehen“. Beobachter werfen der deutschen Regierung jedoch nach wie vor vor, dass sie sich scheut, das israelische Engagement in Gaza zu kritisieren, und bezeichnen dies als „deutsches Dilemma“: Einerseits ist Deutschland der Sicherheit Israels verpflichtet. Andererseits muss es dazu beitragen, den Tod von Zivilisten in Gaza zu verhindern. Der Gaza-Krieg stellt die Regierung daher auf die Probe und hat ihre Glaubwürdigkeit in weiten Teilen der arabischen Welt erschüttert, da sie das Leid der Menschen in Gaza durch die israelischen Angriffe nicht ausreichend anerkennt. Darüber hinaus wurde Deutschland vorgeworfen, Israel einen Freibrief für seine Militäraktionen in Gaza ausgestellt zu haben.
Im weiteren Kontext hat eine solche Phase der Entfremdung nicht erst nach dem 7. Oktober begonnen: So hat beispielsweise die kontroverse Debatte in Deutschland über die FIFA-Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar die öffentlichen Spannungen mit Katar und anderen arabischen Ländern angeheizt. In Deutschland wurde Katar in den Medien wegen seiner angeblichen Menschenrechtsverletzungen, die strukturelle Ausbeutung von Arbeitsmigranten und die mangelnde Gleichstellung von Frauen und der LGBTQI+-Gemeinschaft kritisiert. Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften forderten umfassende Arbeitsreformen zum Schutz von Migranten. Rufe nach einem WM-Boykott wurden von manchen Faninitiativen unterstützt. In dieser polarisierten Debatte vermischten sich jedoch die verschiedenen Kritikpunkte: Oftmals vermischte sich die Kontroverse um die Menschenrechte mit grundsätzlicher Kritik an den Bedingungen des kommerzialisierten Fußballs, der Korruption der Fußballverbände und der Entfremdung der Fans von ihrem „schönen Spiel“, was durch die Instrumentalisierung Katars als Sündenbock für die Überkommerzialisierung des globalen Fußballs zum Ausdruck kam. In Katar wiederum wurde eine solche Debatte als Doppelmoral, eurozentrisch und ignorant bezeichnet. Vor Beginn des Turniers im Oktober 2022 bezeichnete der katarische Emir Tamim bin Hamad Al Thani die europäische Kritik als eine beispiellose Kampagne. Viele Menschen in der arabischen Welt bekundeten ihre Solidarität mit Katar in den sozialen Medien unter dem Hashtag #I_Am_Arab_and_I_Support_Qatar und in den arabischen Medien. Während der Fußball-WM verschlechterte sich das Image des Westens in der arabischen Welt weiter, und in öffentlichen Räumen wie den sozialen Medien wurden antiwestliche Stimmungen immer deutlicher. Insbesondere die deutschen Anschuldigungen wurden als heuchlerisch, respektlos und islamfeindlich bezeichnet. Hier verstärkte die Episode des „One Love“-Abzeichens die antideutsche Stimmung und führte im Dezember 2022 zu einer Beschwerde des deutschen Botschafters in Katar, dass solche Aktionen die bilateralen politischen und geschäftlichen Beziehungen untergraben und den Ruf Deutschlands in Katar und darüber hinaus schädigten.
1. Deutschlands Balanceakt: Eine Übergangszeit in der Außenpolitik
Tatsächlich befindet sich die deutsche Außenpolitik in einem allgemeinen Dilemma: Einerseits propagiert sie einen wertebasierten Ansatz und definiert die universellen Menschenrechte als „wichtigsten Schutzschild für die Würde des Einzelnen“, wie es im Koalitionsvertrag heißt. Für Außenministerin Annalena Baerbock sind „Werte und Interessen kein Widerspruch“, aber Deutschland müsse in einer sich verändernden Welt „klare Kante“ zeigen. Dieser Ansatz findet sich auch in den strategischen Grundsatzpapieren zu feministischer Außen- und Entwicklungspolitik, die am 1. Februar 2023 gemeinsam vom Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vorgestellt wurden. Beide Strategien konzentrieren sich auf Inklusion, Partizipation, Geschlechtergleichstellung und ein ganzheitlicheres Verständnis von Sicherheit, einschließlich Klima- und Gesundheitssicherheit, sowie auf das Ziel, Machtungleichheiten in Form von Patriarchat, Rassismus, Sexismus, Ableismus oder Klassismus abzubauen. Neben den beiden Strategien enthält auch die im Juni 2023 verabschiedete erste nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands eine integrierte Definition von Sicherheit. In Zeiten einer multipolaren Weltordnung und zunehmender internationaler Krisen muss Deutschland robust, widerstandsfähig und nachhaltig handeln, indem es die internationale Ordnung verteidigt. Die Handelsbeziehungen müssen diversifiziert und die Gesellschaft auf wachsende Herausforderungen wie systemische Rivalitäten, Pandemien oder den Klimawandel vorbereitet werden. Aus staatlicher Sicht dient die Strategie als „Kompass“ für solche Zwecke, schreibt Bundeskanzler Olaf Scholz in seinem Vorwort, während Baerbock die Sicherheit der Freiheit als vorrangiges Ziel nennt. Deutschland befindet sich in einer Zeit grundlegender „Wendepunkte“ oder „Zeiten des Umbruchs“, wie es Bundeskanzler Scholz nach dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine im Februar 2022 beschrieb. Alte Gewissheiten sind seitdem zerbröckelt und Deutschland muss seine Position in einer neuen Weltordnung finden.
2. Der Umgang mit dem Nahen Osten: Es fehlt eine umfassende Strategie
Trotz solcher Bemühungen, eine strategische Außenpolitik in die deutsche Entscheidungsfindung einzubringen, wird die arabische Welt und insbesondere die Golfregion nicht im Detail erwähnt. Bislang fehlt es Deutschland an einer klaren und glaubwürdigen Vision für seine Position in der Welt und insbesondere im Nahen und Mittleren Osten. In außenpolitischen Kreisen wird diese Debatte bereits geführt, aber es wurde noch kein umfassendes Ergebnis erzielt. Diese Tatsache zeigt einmal mehr, dass Deutschland in den letzten Jahren die geopolitische Relevanz der arabischen Welt in seinem außenpolitischen Konzept vernachlässigt hat. Ein kurzer Blick auf die Geschichte der deutschen Außenpolitik seit der Wiedervereinigung 1990 zeigt, dass es komplexere Gründe für diese mangelnde Priorisierung gibt als nur Ignoranz und Desinteresse: Im Einklang mit den Vereinigten Staaten dominierte die transatlantische Partnerschaft die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, während die Integration in die Europäische Union (EU) zur zweiten Säule der deutschen Außenpolitik wurde. Multilateralismus, Europa und die transatlantische Partnerschaft waren und sind die wichtigsten Triebkräfte für das außenpolitische Handeln Deutschlands in den letzten Jahrzehnten. Infolgedessen konzentrierte sich Deutschland auf Soft Power und die auswärtige Kultur- und Entwicklungszusammenarbeit und nicht auf einen eigenständigen politischen Ansatz gegenüber dem Nahen Osten. Nach den traumatischen Erfahrungen mit Nazi-Deutschland wollte Deutschland in der Welt als moralischer Akteur wahrgenommen werden – als „guter Deutscher“ – und nicht als selbstbewusste Supermacht: Das moralische Verhalten wurde zur Daseinsberechtigung der Friedens- und Zivilmacht Deutschland.
Dieser traditionelle Ansatz wurde jedoch angesichts einer grundlegenden Erosion der alten Weltordnung und des Gaza-Krieges mehr denn je auf die Probe gestellt. Daher ist es für Deutschland umso dringlicher, eine umfassende Strategie zu entwickeln, die seine besondere Beziehung zu Israel berücksichtigt und somit auch eine mehrdimensionale Diskussion über die Definition von „Staatsräson“ fördert, da ihre konkrete Bedeutung und ihre Auswirkungen vage bleiben. Darüber hinaus muss Deutschland als entschiedener Verfechter der internationalen Rechtsstaatlichkeit humanitäre und politische Verantwortung gegenüber den Menschen in Gaza übernehmen. Schließlich hat sich die arabische Welt als relevante Region für das deutsche Interesse herausgestellt, insbesondere in geostrategischer, energiepolitischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Die Forderung, dass Deutschland eine „Ankerfunktion“ in der Außenpolitik einnehmen sollte, wurde bereits vor dem 7. Oktober aus verschiedenen Blickwinkeln geäußert, hat aber in den letzten Monaten noch an Dringlichkeit gewonnen. Allerdings mangelt es der deutschen Außenpolitik oft an Fachwissen, finanziellen und personellen Ressourcen, was auch ein proaktives, konstruktives und umfassendes Engagement in der arabischen Welt einschränkt. Trotz des Bestrebens der Regierung, die Außenpolitik besser zu straffen und zu gestalten, verhindern übermäßig aufgeblähte Verwaltungsprozesse, Personalmangel in Ministerien, kulturellen Einrichtungen, akademischen Institutionen und Sicherheitsorganisationen sowie die bestehende Konkurrenz zwischen den verschiedenen Ministerien und Abteilungen, dass die Entscheidungsfindung effiziente und langfristige politische Maßnahmen umsetzt.
3. Gemeinsames Interesse an Deeskalation: Die Notwendigkeit einer verstärkten deutsch-arabischen Zusammenarbeit
Angesichts der aktuellen Eskalation im Nahen und Mittleren Osten sind solche Defizite ins internationale Rampenlicht gerückt und treiben einen weiteren Keil zwischen Deutschland und die arabische Welt. Infolgedessen trägt diese Atmosphäre der Entfremdung und des Misstrauens nicht zu einer Lösung der vielfältigen Konflikte in der Region bei und dient auch nicht den vielfältigen sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und politischen Interessen in Deutschland und der arabischen Welt. Angesichts wachsender regionaler Spannungen und einer weiteren Eskalation zwischen Israel und dem Iran sollten Deutschland und seine arabischen Partner daher verstärkt auf Kommunikation und Dialog setzen, da beide Seiten ernsthaft an einer Deeskalation interessiert sind. Tatsächlich findet auf hochrangiger politischer Ebene ein regelmäßiger Austausch statt, wie die offiziellen Reisen von Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und anderen deutschen Politikern in die Region sowie die ernsthaften Bemühungen um eine „Krisendiplomatie“ auf multilateraler Ebene zeigen. Hier diskutieren Deutschland und seine Partner in der arabischen Welt über Konfliktlösungen und konkrete Maßnahmen wie die Bereitstellung umfangreicher Hilfe für Gaza oder die Umsetzung eines Waffenstillstands. Die Kommunikationskanäle auf politischer, kultureller und wirtschaftlicher Ebene bleiben dank gut etablierter Netzwerke und vertrauenswürdiger Partnerschaften zwischen Deutschland und seinen Partnern in der arabischen Welt offen. Trotz des schwindenden gegenseitigen Vertrauens und der unterschiedlichen Positionen zu den regionalen Krisen sind beide Seiten daran interessiert, im engen Dialog zu bleiben und Wege für Konfliktlösungen und diplomatische Bemühungen zu finden.
Auf wirtschaftlicher Ebene werden Geschäftsinteressen weiterhin die Zusammenarbeit Deutschlands mit der Region vorantreiben. Traditionell haben wirtschafts- und energiepolitische Interessen die deutsch-arabischen Golf-Beziehungen dominiert, insbesondere angesichts des wachsenden Bedarfs an einer Diversifizierung der deutschen Energieversorgung seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine. Das Interesse an einer verstärkten Zusammenarbeit wird wahrscheinlich anhalten und könnte somit mehr Plattformen für vertrauensbildende Maßnahmen schaffen. Auf arabischer Seite hat Deutschland in den letzten Jahren als vielversprechendes wirtschaftliches Schwergewicht an Attraktivität verloren, ist aber nach wie vor ein wichtiger Handels- und Investitionspartner. Dies gilt insbesondere für die arabischen Golfmonarchien: Im Jahr 2021 belief sich der Gesamtwert der Importe und Exporte zwischen Deutschland und den Golfmonarchien auf 18,9 Milliarden Euro, wobei die deutschen Exporte 13 Milliarden Euro zur Handelsbilanz beitrugen. Mit einem Volumen von 8 Milliarden Euro sind die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) Deutschlands wichtigster Handelspartner am Golf, gefolgt von Saudi-Arabien mit 6,6 Milliarden Euro. Im Jahr 2019, vor der Fußball-WM, lag Deutschland hinter den USA und China auf Platz 5 der wichtigsten Handelspartner Katars und exportierte Waren im Wert von 1,5 Milliarden Euro. Im Bau- und Maschinenbausektor sowie im Ingenieurwesen und im Dienstleistungssektor bot die Fußball-WM deutschen Unternehmen hervorragende Möglichkeiten für den Markteintritt. Im Jahr 2021 waren insgesamt 150 deutsche Unternehmen vor Ort aktiv.
Trotz der zunehmenden Konzentration der Golfstaaten auf asiatische Partner und der rhetorischen und politischen Entfremdung von Europa spielen europäische Unternehmen nach wie vor eine wichtige Rolle in ihrem Partnerschaftsportfolio
Katar hingegen hat mehr als 25 Milliarden Euro in deutsche Unternehmen investiert. Golfstaaten wie Saudi-Arabien durchlaufen einen grundlegenden sozioökonomischen Wandel und benötigen dringend ausländische Direktinvestitionen (ADI), Handelspartnerschaften, eine engere Zusammenarbeit beim Know-how-Transfer und beim Bildungsaustausch, um ihre Rentenökonomie weg von Öl und Gas zu diversifizieren und Arbeitsplätze für die junge Generation zu schaffen. Trotz ihrer zunehmenden Konzentration auf asiatische Partner wie China, Korea und Japan und ihrer rhetorischen und politischen Entfremdung von Europa spielen europäische Unternehmen wie die aus Deutschland nach wie vor eine wichtige Rolle in ihrem Partnerschaftsportfolio. Deutschland wiederum ist seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine engere Kooperationsmodelle mit energiereichen Golfstaaten eingegangen, um seinen traditionellen Energiemix zu diversifizieren. Vor dem Krieg bezog Deutschland 55 % seiner Gaslieferungen aus Russland, was wiederum zu einer höchst problematischen politischen Abhängigkeit von Moskau führte. Im Rahmen der nationalen Energiewende strebt Deutschland an, die Kohlendioxidemissionen bis 2030 um 65 % zu reduzieren, den Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung auf 80 % zu erhöhen und Wasserstoff zu einem wichtigen Bestandteil des deutschen Energiemixes zu machen. Bereits im Juni 2020 hat die damalige Bundesregierung die Nationale Wasserstoffstrategie auf den Weg gebracht, die einen Rahmen für die wasserstoffbasierte Energieerzeugung bietet und die notwendigen Importe sichern soll. Golfstaaten wie Oman, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate streben danach, sich als regionale Wasserstoff-Champions zu etablieren, was auch das Potenzial für eine deutsch-golfarabische Energiezusammenarbeit erhöht: Im März 2021 unterzeichneten Deutschland und Saudi-Arabien den Deutsch-Saudi-Energiedialog, um die bilaterale Zusammenarbeit bei der Produktion und dem Transport von Wasserstoff zu fördern. Im Februar 2022 eröffnete Deutschland in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH ein „Büro für Wasserstoffdiplomatie“ in der saudischen Hauptstadt Riad. Ähnliche Partnerschaftsmodelle gibt es auch mit Katar, Oman und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Das wachsende deutsche Interesse an einer Energiekooperation mit den Golfstaaten wurde durch den Besuch von Robert Habeck, Minister für Wirtschaft und Klimaschutz, in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar im März 2022 symbolisiert. Auch bei Bundeskanzler Scholz‘ erster Reise nach Riad, Abu Dhabi und Katar im September 2022 standen Energiesicherheit und wirtschaftliche Zusammenarbeit im Mittelpunkt. In dieser Zeit fanden harte Verhandlungen zwischen Katar und Deutschland statt, bevor eine Einigung erzielt wurde: Im September 2022 einigten sich Doha und Berlin auf eine umfassendere Energiepartnerschaft, in deren Rahmen Deutschland ab 2026 über einen Zeitraum von 15 Jahren Flüssigerdgas (LNG) von dem staatlichen Unternehmen Qatar Energy über das US-Unternehmen ConocoPhillips beziehen soll.
4. Notwendigkeit eines verbesserten Dialogs: Erwartungsmanagement, Respekt und Empathie
Trotz dieses anhaltenden politischen Dialogs und der wirtschaftlichen und energiepolitischen Zusammenarbeit fehlt es an einer kohärenten deutschen Strategie für die Nah- und Mittelostpolitik. Anstatt nur auf aktuelle Krisen zu reagieren, wird von Deutschland erwartet, dass es eine klare und glaubwürdige Position zur Situation in der MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika) einnimmt. Mehr denn je braucht Deutschland daher eine offene, selbstreflexive und selbstkritische Diskussion, die die eigene Politik im Nahen und Mittleren Osten neu konzipiert. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes wird sicherlich die besondere Beziehung zu Israel stehen, aber auch die humanitäre Verantwortung für die Opfer des Gaza-Krieges und das Interesse an langfristiger regionaler Stabilität und Deeskalation dürfen nicht vernachlässigt werden. Es ist daher notwendig, Werte und Interessen besser aufeinander abzustimmen, anstatt sie als Gegensätze zu betrachten. Deutschland hat viel Vertrauen in der Region verloren und sollte versuchen, es wiederherzustellen. Dazu ist es wichtig, die eigene Position klarer zu kommunizieren und dabei auf die komplizierte Situation hinzuweisen, in der sich Deutschland befindet. Die „Zeitenwende“ ist ein zeit- und ressourcenintensiver Prozess, der nicht nur mehr finanzielle, logistische, militärische und personelle Kapazitäten erfordert, sondern auch ein Umdenken in der Mentalität und Strategie.
In Zeiten wachsenden Vertrauensverlustes müssen Plattformen für politische, soziale und öffentliche Kommunikation unterstützt werden, um sichere Räume für einen offenen Dialog und kritischen Austausch zu schaffen. Dabei müssen nicht nur Wirtschaft und Diplomatie, sondern auch zivilgesellschaftliche Initiativen, NGOs, Akteure der Entwicklungszusammenarbeit, Journalisten und Medienaktivisten einbezogen werden, um offene und kritische Diskussionen zu fördern. Vor diesem Hintergrund sollten Experten für Dialog und Mediation sowie Initiativen zur Konfliktlösung und Denkfabriken ermutigt werden, mehr Plattformen und Projekte zu schaffen, die darauf abzielen, Menschen aus Deutschland und der Region des Nahen und Mittleren Ostens zusammenzubringen. In diesem Zusammenhang sind mehr Projekte erforderlich, um Partner sowohl aus Deutschland (und anderen europäischen Ländern) als auch aus arabischen Ländern einzubeziehen, um bestehende Stereotypen zu überwinden und an einem gemeinsamen Verständnis zu arbeiten. Bestehende Initiativen und Institutionen wurden im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg kritisiert. Vor diesem Hintergrund müssen Experten aus Wissenschaft und Forschung, Wirtschaft, gemeinnützigen Organisationen, Kultur und Kunst, Medien, Migrationspolitik und Entwicklungszusammenarbeit, Sport, Tourismus und Unterhaltung Themen von gemeinsamem Interesse diskutieren, um Chancen für eine engere Zusammenarbeit auf interdisziplinärer Ebene zu ermitteln. Sicherlich führt die derzeitige Polarisierung auf beiden Seiten zu Spannungen und einem Mangel an Verständnis, aber voneinander zu lernen und einander zuzuhören scheint wichtiger denn je. Bislang finden viele Workshops, Konferenzen oder Diskussionsforen immer noch mit einer kleinen Gruppe der bereits etablierten „üblichen Verdächtigen“ und „Meinungsmacher“ aus Forschung, Politikberatung, Politik und Medien statt, während Newcomer und Nachwuchstalente nur allmählich Zugang zu diesen Formaten erhalten. Zu oft finden wissenschaftliche, zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Diskurse in isolierten Gemeinschaften statt, was den interdisziplinären Austausch und eine breite öffentliche Aufmerksamkeit verhindert. Daher braucht auch die deutsche Kulturdiplomatie eine strategische Neubewertung, um Vertrauen wiederherzustellen und die Herzen und Köpfe in der arabischen Welt zurückzugewinnen. Ein solches konstruktives Modell der Kommunikation und Zusammenarbeit sollte von einem realistischen Erwartungsmanagement für die Konfliktlösung und ihre Grenzen, dem Engagement für einen respektvollen und integrativen Dialog und Austausch sowie der Empathie für gegensätzliche Positionen und unterschiedliche Argumentationslinien getragen werden.
In der arabischen Welt sind die Gesprächspartner überrascht und irritiert, dass Deutschland trotz seiner Wirtschaftskraft nicht daran interessiert oder in der Lage zu sein scheint, sein Engagement in der Region zu verstärken
Allerdings dürften politische Feindseligkeiten überwiegen. Hier sollte Deutschland besser kommunizieren und erklären, was die deutsche Außenpolitik antreibt. Dennoch mangelt es in der arabischen Welt an Wissen und Expertise über die Komplexität der deutschen Entscheidungsfindung, was oft zu Missverständnissen führt. Manchmal entsteht der Eindruck, dass Deutschland als Europas wichtigste Wirtschaftsmacht fast automatisch über die notwendigen Kapazitäten verfügt, um eine proaktive Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben. In vielen Gesprächen in der arabischen Welt sind die Gesprächspartner überrascht und irritiert, dass Deutschland trotz seiner Wirtschaftskraft nicht daran interessiert oder in der Lage zu sein scheint, sein Engagement in der Region zu verstärken, da es an finanziellen und personellen Kapazitäten, Fachwissen und institutionellen Netzwerken mangelt. Darüber hinaus sind die historischen Hintergründe und die vielfältigen Komplexitäten der engen Beziehungen Deutschlands zu Israel in der Golfregion kaum im Detail bekannt und wurden von deutscher Seite nicht umfassend kommuniziert. Dieser Mangel an Wissen führt auf beiden Seiten zu Misstrauen. Daher sollten politische Akteure, Medien, öffentliche Experten und andere Interessengruppen einen Modus Operandi finden, um umstrittene Themen mit Respekt und ernsthaftem Engagement zu diskutieren und konkrete Lösungen zu finden. Schuldzuweisungen helfen weder den Kriegsopfern in Gaza noch führen sie zu einer Deeskalation. Im Gegensatz dazu könnten Kriegstreiber im Iran, in Israel und anderswo von solchen Spannungen profitieren. Vor diesem Hintergrund sollten rote Linien offen und ehrlich kommuniziert werden, um die Erwartungen richtig zu steuern und destruktivem Whataboutism vorzubeugen. Konkrete Bereiche der gegenseitigen Zusammenarbeit sind diplomatischer Dialog und politischer Austausch sowie wirtschaftliche Zusammenarbeit. Darüber hinaus sind eine bessere Koordinierung der humanitären Arbeit in Gaza, mehr kultureller und persönlicher Austausch und verstärkte Bemühungen zur Einführung vertrauensbildender Maßnahmen erforderlich, um das erschütterte Vertrauen auf beiden Seiten wiederherzustellen.
Die Ansichten über den Gaza-Krieg gehen zwar auseinander, aber das übergeordnete Interesse an regionaler Stabilität steht auf deutscher und arabischer Seite im Vordergrund. Eine nachhaltige und umfassende Konfliktlösung für den Gaza-Krieg kann sicherlich nicht allein durch das Engagement regionaler Mächte erreicht werden, da ein substanzieller Beitrag Europas und der Vereinigten Staaten erforderlich ist. Hier könnte Deutschland im Prinzip eine wichtigere Rolle in engerer Zusammenarbeit mit regionalen Akteuren wie den Golfmonarchien, dem Irak, Jordanien oder Ägypten spielen. Je mehr Deutschland jedoch vorgeworfen wird, arabische Interessen zu ignorieren, desto geringer sind die Chancen für eine konstruktive Zusammenarbeit. Daher muss Deutschland seine Interessen gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten politisch genau definieren: Ohne klare Definition der Interessen gibt es keinen Plan, und ohne klar formulierte Ziele ist eine glaubwürdige Zusammenarbeit mit der arabischen Welt höchstwahrscheinlich zum Scheitern verurteilt. In Zeiten regionaler Eskalation sollte ein solcher Ansatz nicht nur als Option, sondern als Priorität betrachtet werden. Andernfalls wird sich die katastrophale Lage in Gaza nur noch verschlimmern, was weder im Interesse Deutschlands noch der arabischen Welt liegt.
Dr. Sebastian Sons ist leitender Forscher am Bonner Zentrum für angewandte Orientforschung (CARPO) und Experte für die arabischen Golfstaaten. Er promovierte über Arbeitsmigration von Pakistan nach Saudi-Arabien und ist Autor von drei Büchern über die arabischen Golfmonarchien mit besonderem Schwerpunkt auf den Beziehungen zwischen den Golfstaaten und Europa bzw. Deutschland.