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Sebastian Sons
Der verheerende Gaza-Konflikt dauert seit den Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nun schon mehr als zehn Monate an. Bis August sollen mehr als 40.000 Menschen getötet worden sein, davon bis zu 70 % Frauen und Kinder, und über 91.000 wurden verletzt.
Die laufenden Verhandlungen über einen umfassenden Waffenstillstand und die Freilassung der von der Hamas gefangen gehaltenen israelischen Geiseln sind noch nicht vollständig abgeschlossen. Darüber hinaus hat die Gewalt im Gazastreifen zu einer regionalen Eskalation geführt, und die Gefahr eines offenen Krieges zwischen der israelischen Armee einerseits und dem Iran und der libanesischen Hisbollah andererseits wächst täglich, während die jemenitischen Houthis seit Monaten den internationalen Schiffsverkehr im Roten Meer mit Drohnen- und Raketenangriffen bedrohen. Die Feindschaft zwischen Israel und dem Iran wird immer offener und hat sich in den letzten Monaten bereits in direkten Angriffen und einer beschleunigten Eskalation niedergeschlagen, wie die Tötung des politischen Führers der Hamas, Ismael Haniyeh, in Teheran oder des Hisbollah-Führers Fuad Shukr in der libanesischen Hauptstadt Beirut, die israelischen Angriffe auf das iranische Konsulat in Syrien im April und der Gegenschlag der Islamischen Republik auf Israel mit mehr als 300 Raketen und Drohnen zeigen.
1. Die Golfstaaten: Kein Interesse an regionaler Eskalation
Die meisten einflussreichen regionalen Akteure haben bisher kein Interesse daran gezeigt, den Konflikt außer Kontrolle geraten zu lassen – zu groß ist ihre Sorge vor einer Gewaltspirale, die sie nicht in den Griff bekommen würden. Zu diesen Akteuren gehören vor allem die arabischen Golfstaaten. Sie alle befinden sich in einer heiklen Situation, denn sie müssen ihre nationalen sozioökonomischen Interessen wahren, das regionale Konfliktmanagement fördern, indem sie sich mit Rivalen wie dem Iran auseinandersetzen, eine weitere Eskalation auf strategischen Schauplätzen der Machtprojektion wie dem Jemen, dem Irak, dem Roten Meer und dem Horn von Afrika verhindern, pro-palästinensische Solidarität zeigen und einen pragmatischen Modus Operandi mit Israel finden. In den letzten Jahren ist in der Golfregion eine neue Dynamik verstärkter Versöhnungsbemühungen entstanden, um Spannungen zu überwinden und Konflikte zu entschärfen.
In den letzten Jahren ist in der Golfregion eine neue Dynamik verstärkter Versöhnungsbemühungen entstanden, um Spannungen zu überwinden und Konflikte zu entschärfen
Durch den Aufbau eher geschäftlicher Beziehungen, die auf gegenseitigem Interesse an bestimmten Politikfeldern wie Wirtschaftspartnerschaft oder Handel und Investitionen beruhen, versuchen die jeweiligen Regierungen, ideelle Spannungen und Rivalitäten zu bewältigen. Daher verfolgen sie eine Strategie der regionalen Deeskalation, der Risikominimierung und der taktischen Annäherung an regionale Feinde wie Israel auf der einen und Iran auf der anderen Seite: In den letzten Jahren haben einige GCC-Länder die Aussöhnung mit Israel gefördert und angesichts der zunehmenden Verschlechterung der Sicherheitslage und der wirtschaftlichen Interessen gegenüber Israel einen pragmatischen Kurs eingeschlagen. Besonders deutlich wurde dies in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Bahrain, die im Jahr 2020 im Rahmen der sogenannten „Abraham-Abkommen“ die Beziehungen zu Israel normalisierten. Der damalige israelische Minister für Infrastruktur Uzi Landau war bereits 2010 in die Emirate gereist, und 2015 wurde eine israelische Vertretung in den VAE eröffnet. Im Jahr 1994 reiste ein israelischer Minister nach Bahrain. Katar hingegen lehnte eine Normalisierung ab, kooperierte aber mit Israel, wenn dies seinen eigenen Interessen diente. In den 2000er-Jahren initiierte die katarische Führung Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas. Auch der Oman hielt sich mit einer offiziellen Anerkennung zurück, suchte aber immer wieder den Austausch mit israelischen Vertretern aus Wirtschaft und Politik. Bereits 1994 reiste der damalige israelische Premierminister Yitzhak Rabin nach Maskat, und 1996 eröffnete Israel eine Handelsvertretung im Oman. Kuwait hingegen lehnte eine stärkere Integration Israels in die arabische Welt strikt ab. Schließlich hat sich die Haltung Saudi-Arabiens gegenüber Israel in den letzten Jahren erheblich gewandelt: Ein israelischer Athlet nahm im Oktober 2022 an einem Triathlon im saudischen Königreich teil, ein israelischer und ein saudischer Judoka traten bei den Olympischen Sommerspielen 2021 in Tokio gegeneinander an, und eine israelische Mannschaft nahm an der E-Fußball-Weltmeisterschaft 2023 teil, die in Riad ausgetragen wurde.
Auch in Bezug auf den Iran verfolgen die Golfstaaten unterschiedliche Ansätze: Während die Außenpolitik des Königreichs bis Ende 2018 vor allem von einem konfrontativen außenpolitischen Ansatz geprägt war, hat sich die Führung des Königreichs unter Kronprinz Muhammad bin Salman seitdem auf mehr Pragmatismus und regionalen Dialog verlegt. Dies wurde vor allem in der saudischen Politik gegenüber dem regionalen Rivalen Iran deutlich: So verdeutlichten die Drohnen- und Raketenangriffe auf die beiden saudischen Ölraffinerien Abqaiq und Khurais im September 2019 der saudischen Führung die eigene Verwundbarkeit und die fehlende Unterstützung der USA als Sicherheitsgeber. In der Folge intensivierte das Königreich seine diplomatischen Bemühungen, indem es auf den Iran zuging. Nach fünf Runden direkter Gespräche zwischen iranischen und saudischen Sicherheitsbeamten, die 2020 begannen und von Irak und Oman vermittelt wurden, unterzeichneten beide Länder im März 2023 ein von China vermitteltes Abkommen zur Wiederherstellung der 2016 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen. Saudi-Arabien betrachtet die taktische Annäherung an den Iran als Teil seiner eigenen Entwicklungspolitik: Um ihre wirtschaftlichen Ziele zu erreichen, braucht die saudische Führung regionale Stabilität, um ausländische Investoren anzuziehen und Saudi-Arabien (und die Region) als attraktiven und sicheren Investitionsstandort zu etablieren. Im Falle des Jemen erwartet die saudische Führung von Iran, dass es Druck auf die Houthis ausübt, damit diese ihre Angriffe auf saudisches Gebiet einstellen und eine politische Lösung finden. Nach der Vereinbarung trafen sich der verstorbene iranische Außenminister Hussein Amirabdollahian und sein saudischer Amtskollege Faisal bin Farhan erstmals im April 2023 zu einem Austausch in Peking und zwei Monate später erneut in Teheran, bevor der saudische Kronprinz Muhammad bin Salman Amirabdollahian im August 2023 in Dschidda empfing. Saudische Beamte setzten diesen hochrangigen diplomatischen Austausch auch fort, nachdem der iranische Präsident Ebrahim Raissi und Amirabdollahian im Mai bei einem Hubschrauberunfall ums Leben gekommen waren. So nahmen beispielsweise der stellvertretende Außenminister Waleed al-Khereiji und andere saudische Beamte an der Amtseinführung von Raissis Nachfolger Masoud Pezeshkian in Teheran teil. Auch Bahrain bemüht sich um eine Annäherung an den Iran, obwohl die islamische Republik von den bahrainischen Machthabern als Bedrohung ihrer eigenen Macht wahrgenommen wird. Für Oman, Kuwait und Katar sind die Beziehungen zum Iran historisch gesehen eher von Pragmatismus und Nichtkonfrontation als von Dämonisierung und Iranoia geprägt.
2. Die Beweggründe für die regionale Aussöhnung: Erhaltung des Geschäftsmodells am Golf
Solche Annäherungsprozesse sind nicht zufällig: Im geopolitischen Kontext befinden sich die Golfstaaten in einem „regionalen Sicherheitskomplex„, der von mehreren regionalen Konflikten und Krisen geprägt ist, wie der hegemonialen Rivalität zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, die sich nach der iranischen Revolution 1979 verschärfte, der US-Invasion im Irak 2003 sowie dem Aufstieg terroristischer Bewegungen wie Al-Qaida und Da’esh und den Auswirkungen der „Arabischen Aufstände“ 2010/2011, die zu Unruhen in Ägypten und Tunesien sowie zu militärischen Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen in Libyen, Jemen und Syrien führten. In einer multipolaren Welt verfolgen die Golfstaaten somit einen ausgleichenden Ansatz gegenüber globalen Mächten wie China und Russland auf der einen Seite und den USA und Europa auf der anderen Seite. Dieser Balanceakt wird von der Motivation angetrieben, nationale Interessen zu fördern, eine wachsende Abneigung gegen eine Parteinahme zu zeigen und die Blockfreiheit zu fördern. Wachsendes Misstrauen in die Glaubwürdigkeit des „Westens“, insbesondere der USA, als verlässlicher Sicherheitspartner prägt den öffentlichen und politischen Diskurs in weiten Teilen der Golfregion: Der „Westen“ wird pauschal als neokolonialer Akteur wahrgenommen, der mit zweierlei Maß misst, dem es an Respekt mangelt und der aus wertorientierten Motiven heraus die wichtigsten Sicherheitsbelange der Golfstaaten (z. B. Iran) vernachlässigt. Infolgedessen entwickeln die Golfmonarchien selbstbewusst ihr eigenes Partnerschaftsmodell, das auf pragmatischer und opportunistischer Diversifizierung, regionaler Annäherung und multilateralen Beziehungen beruht. Vor diesem Hintergrund haben die Herrscher in der Golfregion erkannt, dass Feindseligkeiten und Spannungen ihrem eigenen Ruf und ihren Geschäftsmodellen schaden. Da ausländische Investitionen und die Diversifizierung der Einnahmen wichtige Pfeiler ihrer jeweiligen Pläne für die wirtschaftliche Entwicklung darstellen, ist die Wahrung der regionalen Stabilität zu einer geostrategischen Priorität geworden, wenn es um die Konsolidierung ihrer politischen Macht geht. In Saudi-Arabien zielt die 2016 eingeführte „Vision 2030“ ebenfalls darauf ab, die ölbasierte Wirtschaft in eine multisektorale Wissenswirtschaft umzuwandeln, indem in digitale Infrastruktur, Immobilien, Tourismus, Unterhaltung, Logistik, Gesundheitswesen, erneuerbare Energien und Sport investiert wird. Die anderen GCC-Länder befinden sich in ähnlich komplexen und komplizierten Prozessen.
Der Gaza-Konflikt und das damit verbundene Worst-Case-Szenario einer regionalen Eskalation bedrohen die Geschäftsinteressen und das politische Machtkalkül der Golf-Herrscher
Die „Qatar National Vision 2030“ und die „Bahrain Economic Vision 2030“ wurden bereits 2008 veröffentlicht, gefolgt von der „UAE Vision 2030“ im Jahr 2010, der überarbeiteten Vision 2035 „New Kuwait“ im Jahr 2017 und der „Vision 2040“ im Oman im Jahr 2020. Die Ziele sind klar: Nur durch eine Diversifizierung der Wirtschaft kann es dem Königshaus gelingen, die Jugendarbeitslosigkeit zu senken und die politische Macht zu behalten. Auch wenn sie in vielerlei Hinsicht um Investoren und Marktzugang konkurrieren und vor unterschiedlichen Herausforderungen stehen, eint sie eine Säule: Ohne regionale Stabilität gibt es keinen nationalen Fortschritt, und ohne nationalen Fortschritt gibt es kein politisches Überleben. In Zeiten der wirtschaftlichen Diversifizierung drängen alle Golfstaaten auf eine enge Integration in das globale Finanz- und Wirtschaftssystem, investieren in ausländische Märkte und streben nach globaler Aufmerksamkeit. Dabei lassen sich außen-, wirtschafts- und innenpolitische strategische Überlegungen und Motivationen am Golf nicht voneinander trennen, sondern sind eng miteinander verwoben. So hat sich die Entwicklung in allen Bereichen zur obersten politischen Priorität entwickelt und spiegelt sich auch in der Außenpolitik wider. Je mehr die Situation im Roten Meer außer Kontrolle gerät, desto mehr sind die geostrategischen Konnektivitätsinteressen der VAE gefährdet, die sich als das „neue Venedig“ verstehen und durch ihr Engagement in afrikanischen, arabischen, asiatischen und europäischen Häfen längst ein maritimes Netzwerk aufgebaut haben.
Für Saudi-Arabien ist es von entscheidender Bedeutung, dass ausländische Investitionen in das Land fließen, um seine gigantischen Pläne und Giga-Projekte wie NEOM an den Ufern des Roten Meeres zu verwirklichen. Unruhen in der unmittelbaren Nachbarschaft sind diesem Plan abträglich, da der Status des Königreichs als sicherer Investitionsstandort leiden könnte. Bis 2022 griffen die Houthis immer wieder saudische Ziele an. Obwohl diese Gefahr derzeit gebannt zu sein scheint, könnten solche Angriffe wieder aufflammen. Sollte es zu einem offenen Krieg zwischen Israel und der Hisbollah kommen, könnten sich die Angriffe aus dem Libanon auch gegen Ziele in Saudi-Arabien richten. Immerhin verfügt die Hisbollah über ein Arsenal von rund 130.000 Raketen.Als wichtiger Exporteur und Produzent von Erdgas ist Katar zudem auf freie Handelswege angewiesen, teilt sich mit dem Iran das größte Gasfeld der Welt und hat daher auch kein Interesse an einer regionalen Dauerkrise. Vor diesem Hintergrund bedrohen der Gaza-Konflikt und das damit verbundene Worst-Case-Szenario einer regionalen Eskalation die Geschäftsinteressen und das politische Machtkalkül der Golf-Herrscher. Nach der Ermordung Haniyehs im Juli kritisierten daher alle Golfregierungen Israel scharf für seinen angeblichen Angriff auf Teheran. So wurde die Ermordung von Kuwait als „kriminell unverantwortlicher Akt Israels“, von Kuwait und Saudi-Arabien als „eklatante Verletzung des internationalen und humanitären Rechts“ und von der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) als „abscheulicher Angriff“ bezeichnet. Der saudische Außenminister Faisal bin Farhan Al Saud forderte ebenfalls Sanktionen gegen Israel.
3. Saudi-Arabien: Balance zwischen Verantwortung für Gaza und möglicher Normalisierung mit Israel
Aus diesen Gründen versuchen alle Golfstaaten auf unterschiedliche Weise, den Konflikt einzudämmen und zu bewältigen: Saudi-Arabien hat sich seit Beginn des Gaza-Konflikts als regionale Führungsmacht präsentiert, die sich für die palästinensische Sache einsetzt und Israel scharf kritisiert. Vertreter der saudischen Regierung verweisen auf die Arabische Friedensinitiative von 2002, die maßgeblich vom damaligen saudischen König Abdullah initiiert wurde und eine Zweistaatenlösung als Ziel formuliert. Das Königreich will sich als Unterstützer der Palästinenser präsentieren; schließlich trägt Saudi-Arabien als „Wächter der beiden Heiligen Stätten“ Mekka und Medina auch eine moralische und religiöse Verantwortung für Palästina, nachdem diese Krise in Saudi-Arabien seit Jahren an Relevanz verloren hatte. Das Königreich hält auch einen Trumpf in der Hand: Obwohl die Verhandlungen mit den USA und Israel über eine mögliche Normalisierung der Beziehungen zu Israel nach dem 7. Oktober ausgesetzt wurden, werden sie von der saudischen Führung strategisch klug instrumentalisiert, um die eigene Verhandlungsposition zu stärken. Aus saudischer Sicht ist der Preis für eine solche Annäherung gestiegen: Während Saudi-Arabien von den USA weitreichende Sicherheitsgarantien als Grundvoraussetzung für eine mögliche Normalisierung mit Israel sowie die Erlaubnis zum Aufbau eines eigenen Atomprogramms forderte, steht nun die Schaffung eines palästinensischen Staates im Vordergrund. Dies scheint mit Israels Premierminister Benjamin Netanjahu unerreichbar zu sein. Riad könnte also auf den Zeitfaktor setzen, bevor ernsthafte Gespräche mit Israel – möglicherweise mit einem Nachfolger von Netanjahu – wieder aufgenommen werden. Ob dies unter Einbeziehung der Biden-Administration geschehen wird, erscheint auch im Hinblick auf die anstehenden US-Präsidentschaftswahlen im November fraglich. Ein neuer US-Präsident Trump könnte die Situation noch einmal verändern, was Saudi-Arabien möglicherweise in die Hände spielen könnte.
4. Die VAE im Lichte der „Abraham-Abkommen“: Druckmittel und Bürde
Die VAE haben diesen Trumpf aus der Hand gegeben, als sie 2020 die sogenannten „Abraham-Abkommen“ unterzeichneten. Das Kalkül, mit diplomatischen Mitteln Druck auf die israelische Regierung auszuüben, um eine Zwei-Staaten-Lösung zu akzeptieren, hat sich bis heute als illusorisch erwiesen. Infolgedessen befindet sich Abu Dhabi in einem Dilemma: Einerseits profitiert das emiratische Geschäftsmodell von der Stärkung der Handelsbeziehungen mit Israel. Zwei Jahre nach dem Abkommen beläuft sich das Handelsvolumen zwischen den VAE und Israel auf 2,5 Mrd. USD, im März 2023 trat ein bilaterales Freihandelsabkommen in Kraft, und im Jahr 2023 waren 1.000 israelische Unternehmen in den VAE tätig. Andererseits schaden die „Abraham-Abkommen“ auch der politischen Legitimität der emiratischen Führung: In einer im Januar 2024 durchgeführten Umfrage äußerten sich 67 % der Befragten kritisch über die Rolle der VAE im Gaza-Konflikt. Jedenfalls ist es den Emiraten bisher nicht gelungen, ihre diplomatischen Kanäle mit Israel zu nutzen, um die Situation zu deeskalieren. Andererseits wird eine Aufkündigung der Abraham-Abkommen auch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, da sich die Herrscher in Abu Dhabi von diesem Deal langfristig strategische Tiefe und wirtschaftliche Rendite versprechen. Die „Abraham-Abkommen“ bieten den VAE Kommunikationskanäle zur israelischen Regierung, die anderen regionalen Akteuren fehlen. So lud Abdullah bin Zayed Al Nahyan den US-Nahost-Berater Brett McGurk, den Berater des US-Außenministeriums Tom Sullivan und den israelischen Minister für strategische Angelegenheiten Ron Dermer ein, um bei einem Treffen im Juli in Abu Dhabi die Chancen für ein Szenario nach dem Konflikt zu erörtern.
5. Katar: Überdenken seiner Rolle als Vermittler im Lichte zunehmender Kritik
In jüngster Zeit ist Katar als Vermittler zwischen der israelischen Regierung und der Hamas in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit gerückt . Seit 2012 unterhält die katarische Führung versöhnliche Beziehungen zu Teilen der islamistischen Bewegung; Hamas-Vertreter wie Ismail Haniyeh leben in Doha. Katar vermittelte 2006, 2009 und 2014 im Nahostkonflikt und hat seitdem seinen Einfluss als einflussreicher Netzwerker und Verhandlungsführer ausgebaut. Dies zeigte sich beispielsweise bei den Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban, die 2020 in Doha stattfanden. Nach dem Abzug der USA und anderer Verbündeter aus Afghanistan im Jahr 2021 ermöglichte Katar 58.000 Flüchtlingen die Evakuierung des Landes nach der Machtübernahme durch die Taliban und leistete dem Land auch nach der Evakuierung die notwendige Unterstützung. Die Taliban eröffneten bereits 2012 ein Verbindungsbüro in Doha. Trotz seiner geringen demografischen und geografischen Größe sieht sich Katar als einflussreiche „Mittelmacht“ in der internationalen Arena, die sich durch ein wachsendes Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit in einer multipolaren Welt auszeichnet. Als Akteur mit starken politischen und manchmal auch wirtschaftlichen Beziehungen zu verschiedenen Parteien – Iran und den USA, Hamas und den Taliban, China und Europa – versucht Katar, in einer Welt voller Krisen externe Bedrohungen abzuwehren und eine „Monoabhängigkeit“ von einigen wenigen Partnern zu vermeiden. Dieser pragmatische Ansatz der Soft Power und der öffentlichen Diplomatie wird üblicherweise als Schutzschild in einer fragilen Region betrachtet, in der Katar ständig von regionalen Rivalen bedroht wird. Seit dem 7. Oktober ist die herausragende Rolle Katars als Vermittler, Plattform und Moderator in regionalen Konflikten noch deutlicher geworden. Dadurch konnte das kleine Emirat seine Bedeutung als hyperaktiver Netzwerker auf der Weltbühne festigen. In diesem Zusammenhang hat Katar regelmäßig Verhandlungsrunden in Doha veranstaltet, an denen u. a. David Barnea, der Direktor des israelischen Geheimdienstes Mossad, sowie sein US-amerikanischer Amtskollege, CIA-Direktor William Burns, teilnahmen. Im Juli rief Katar gemeinsam mit Ägypten und den USA Israel und die Hamas zur Wiederaufnahme der Gespräche auf, um einen Waffenstillstand im Gazastreifen zu erreichen. Einige Wochen später war Katar Gastgeber einer weiteren Verhandlungsrunde über einen Waffenstillstand und die Freilassung von Geiseln im Gazastreifen. Viele Vertreter der internationalen Gemeinschaft, wie US-Präsident Joe Biden und die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, haben Katar für seine konstruktive Beteiligung an den Verhandlungen zwischen der Hamas und Israel gedankt.
Katar steht nun jedoch wegen seiner Nähe zur Hamas in der Kritik und wird verdächtigt, terroristische Strukturen zu unterstützen. Immerhin soll Katar die Hamas seit 2007 mit rund 2 Milliarden US-Dollar finanziell unterstützt und jährlich 30 Millionen für die Zahlung von Gehältern in Gaza bereitgestellt haben. In einem von 63 Demokraten und 50 Republikanern in den USA unterzeichneten Brief wird die US-Regierung aufgefordert, mehr Druck auf Katar auszuüben, um die Hamas-Führer auszuweisen. Darüber hinaus hat Senator Ted Budd (R-NC) eine Resolution eingebracht, in der er erwägt, Katar den Status eines wichtigen Nicht-NATO-Verbündeten zu entziehen. Vertreter Katars bestreiten jedoch jede ausdrückliche Unterstützung der Hamas und betonten, dass das Engagement des Landes im Gazastreifen stets mit den USA abgestimmt und von Israel beaufsichtigt worden sei. Darüber hinaus hat Katar vor und seit Beginn des Konflikts über seine Geberorganisationen und Durchführungsorganisationen wie Qatar Charity und die philanthropische Wohltätigkeitsorganisation Education Above All (EAA) humanitäre Hilfe für den Gazastreifen geleistet. Damit will die katarische Führung nicht nur Solidarität mit den palästinensischen Opfern des Krieges zeigen, sondern auch der internationalen Gemeinschaft signalisieren, dass sie weiterhin ein verlässlicher Partner ist. Auf multilateraler Ebene hat Katar auch UN-Organisationen finanziell unterstützt: Im Jahr 2022 unterstützte Katar das UNRWA mit insgesamt 10,5 Millionen USD und im März 2024 sagte Katar dem UNRWA 25 Millionen USD zu. Angesichts solcher Vorwürfe muss Katar überlegen, wie hoch der Preis für seine Politik der Gespräche mit der Hamas sein könnte, wie Katars Außenminister Mohammed bin Abdul Rahman Al Thani erklärte: „Wir befinden uns jetzt in einer Phase, in der wir die Vermittlung auswerten und auch bewerten müssen, wie sich die Parteien an dieser Vermittlung beteiligen.“ Insbesondere nach der Ermordung von Haniyeh, der jahrelang in Doha lebte und enge Kontakte zur katarischen Führungselite unterhielt, muss die Führung ihr Vorgehen gegenüber der Hamas im Hinblick auf Haftungs- und Reputationsrisiken neu bewerten.
6. Die Notwendigkeit eines einheitlichen Ansatzes: Perspektiven und Herausforderungen für Konfliktlösung im Golfraum
Bis jetzt haben Saudi-Arabien, die VAE und Katar versucht, den Gaza-Konflikt zu managen und zu deeskalieren, um nationale Ziele zu erreichen. Dieser Ansatz ist jedoch unzureichend. Stattdessen ist ein partnerschaftlicher Ansatz erforderlich. Vertreter aus Katar, Saudi-Arabien, Ägypten und den USA treffen sich regelmäßig, um über Konfliktlösungen zu diskutieren. Besonders die arabische Seite erhöht den Druck auf die US-Regierung, vehement für einen Waffenstillstand mit der israelischen Regierung unter Premierminister Benjamin Netanyahu einzutreten. Die Golfstaaten sind besorgt um das Schicksal der Bevölkerung im Gazastreifen, deren Leiden durch die Angriffe Israels unermesslich zugenommen hat. Darüber hinaus befürchten die Führungen der Golfstaaten auch eine wirtschaftliche Krise und einen massiven Vertrauensverlust seitens globaler Investoren. Daher ist ein langfristiger Ansatz erforderlich, um den Gaza-Konflikt nicht nur zu managen, sondern ihn dauerhaft zu lösen und sich auf das Szenario des „Tags danach“ vorzubereiten.
Schon vor dem 7. Oktober hatte die saudische Seite wiederholt darauf hingewiesen, dass eine Normalisierung mit Israel nur dann eine Option sei, wenn die Palästinenserfrage angemessen gelöst werde
Insbesondere Saudi-Arabien kommt hier eine Schlüsselrolle zu: Die Unterstützung Palästinas ist traditionell Teil der saudischen Identität; eine saudische Spendenkampagne für Gaza hatte bis Januar mehr als 165 Millionen US-Dollar eingebracht, und das Königreich leistet umfangreiche Hilfe für Gaza. Die ausstehende Normalisierung mit Israel bietet Saudi-Arabien definitiv ein taktisches Instrument, um mehr Druck auf die US- und die israelische Regierung auszuüben. Für Saudi-Arabien war und ist eine mögliche Normalisierung mit Israel eine Option, aber keine Notwendigkeit. Schon vor dem 7. Oktober hatte die saudische Seite wiederholt darauf hingewiesen, dass eine Normalisierung mit Israel nur dann eine Option sei, wenn die Palästinenserfrage angemessen gelöst werde. Dies machte Muhammad bin Salman beispielsweise in seinem Fox-Interview im September 2023 – und damit vor Beginn des Gaza-Krieges – deutlich. Saudi-Arabien kann die Lage im Nahen Osten mehr denn je beeinflussen, aber damit steigt auch die Verantwortung, sich konstruktiv und aktiv an der Konfliktlösung zu beteiligen. Diese Situation birgt Risiken, aber auch Chancen: Sollte es Muhammad bin Salman tatsächlich gelingen, echte Fortschritte für die Palästinenser zu erzielen, könnte er seinen Status als unangefochtener Anführer der arabischen Welt festigen. Neben Saudi-Arabien kann Katar die Vermittlungsbemühungen durch seine eigenen Netzwerke unterstützen, aber es kann den Prozess nicht dominieren. Stattdessen könnte Katar als Plattform für künftige Verhandlungen dienen und seinen Status als neutraler Vermittler festigen. Schließlich könnten die VAE ihr diplomatisches Kapital gegenüber der israelischen Regierung gezielter als bisher einsetzen.
Generell haben die Golfstaaten die notwendigen Netzwerke zu verschiedenen Konfliktparteien und internationalen Akteuren aufgebaut, um einen Dialog zu initiieren und auf ein Nachkriegsszenario hinzuarbeiten. Im März 2024 legte der Golfkooperationsrat (GCC), dem die sechs Golfstaaten angehören, erstmals in seiner 43-jährigen Geschichte eine gemeinsame Vision für die regionale Sicherheit vor. Darin wird ausdrücklich die Umsetzung einer Zweistaatenlösung auf Grundlage der Arabischen Friedensinitiative gefordert, um eine gerechte Lösung der Palästinafrage zu erreichen. Konkret diskutierten Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien, Katar, die VAE und die USA bereits im Februar einen Plan, der die Gründung eines palästinensischen Staates und einen mindestens sechs Wochen andauernden Waffenstillstand vorsieht. Erst dann sei eine Anerkennung Israels möglich, wie saudische Offizielle wiederholt betonen. In einem solchen Szenario könnten nach Kriegsende Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) von arabischen Staaten ausgebildet werden, um die PA unter einer technokratischen Führung als wichtigsten palästinensischen Akteur zu stärken, während die Hamas an Macht verliert. Kurz gesagt fordern die meisten Golfmonarchien – trotz unterschiedlicher Beziehungen zu Israel – den vollständigen Abzug der israelischen Truppen aus dem Gazastreifen, eine dauerhafte Waffenruhe, eine palästinensische Selbstverwaltung und einen klaren und konsequenten Fahrplan zur Erreichung einer Zweistaatenlösung. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben konkrete Vorschläge formuliert, wie aus den Aussagen von Lana Nusseibeh, der stellvertretenden Ministerin für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit für politische Angelegenheiten der VAE, in der Financial Times im Juli hervorgeht. In ihrem Artikel sprach sie sich für die Möglichkeit aus, eine „vorübergehende internationale Mission“ in Gaza einzurichten, die sich wirksam mit der humanitären Krise befassen und die Voraussetzungen für eine palästinensische Behörde schaffen sollte, die die Kontrolle über das Westjordanland und den Gazastreifen übernimmt. Einige Tage später bekräftigte auch die Staatsministerin für internationale Zusammenarbeit, Reem Al Hashimi, diese Vision offiziell. In diesem Zusammenhang forderte die Arabische Liga die Entsendung einer Friedenstruppe der Vereinten Nationen in den Gazastreifen und das von Israel besetzte Westjordanland, bis eine Zwei-Staaten-Lösung ausgehandelt werden kann.
Bisher sind diese Ideen jedoch nicht vollständig ausgearbeitet, werden von der Regierung Netanjahus strikt abgelehnt und erfordern eine umfassende Umstrukturierung der dysfunktionalen Palästinensischen Autonomiebehörde. Insbesondere bedarf die von den Vertretern der VAE skizzierte Vision der Zustimmung Israels, was unter der derzeitigen israelischen Regierung eher unwahrscheinlich erscheint. Darüber hinaus ist völlig unklar, wer die Palästinensische Autonomiebehörde in Zukunft führen wird, sodass interne Machtkämpfe zu erwarten sind. Zudem ist es den Golfstaaten nicht gelungen, ihre Ansätze zu koordinieren und konkrete Strategien für ein Gaza nach dem Krieg zu entwickeln. Sie weigern sich beispielsweise, sich an den gigantischen Kosten von mindestens 20 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau zu beteiligen. In diesem Zusammenhang betonte der Minister für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit der Vereinigten Arabischen Emirate, Abdullah bin Zayed Al Nahyan, dass „die VAE sich weigern, in einen Plan einbezogen zu werden, der darauf abzielt, die israelische Präsenz im Gazastreifen zu decken“. Obwohl sie in der Vergangenheit wiederholt umfassende Hilfe für Gaza versprochen haben, wurde die Mehrheit dieser Versprechen nicht eingehalten. Derzeit wollen sie nicht für die von Israel verursachten Schäden aufkommen und betrachten Hilfe als ineffizient, wenn Israel in Zukunft mit ähnlichen Zerstörungen droht. Ohne politische Sicherheitsgarantien und einen Fahrplan für eine Zwei-Staaten-Lösung scheint eine Unterstützung durch die Golfstaaten daher unrealistisch.
7. Der Weg nach vorn: Militärische Absicherung, Transaktionspartnerschaft und wirtschaftliche Diversifizierung
Angesichts der zunehmenden offenen Eskalation zwischen dem Iran und Israel sind alle Golfstaaten besorgt um die nationale und regionale Sicherheit. Vor diesem Hintergrund haben Länder wie Saudi-Arabien begonnen, umfassender in eine lokale Militärindustrie zu investieren, um den Luftraum und die Seegebiete zu schützen und ihre Drohnen- und Überwachungstechnologie weiterzuentwickeln. Gleichzeitig streben sie nach diversifizierten Militär- und Sicherheitspartnerschaften. Obwohl die USA nach wie vor der wichtigste Verteidigungspartner sind, wurden weitere Abkommen mit der Türkei, China oder Frankreich unterzeichnet. In Zeiten wachsender regionaler Spannungen wird sich dieser Trend wahrscheinlich fortsetzen. Darüber hinaus ist angesichts der Konfrontation zwischen Israel und dem Iran die grenzüberschreitende Vernetzung von Sicherheitsbedrohungen offensichtlich geworden. Infolgedessen streben die GCC-Länder eine Verbesserung ihrer gegenseitigen Verteidigungsfähigkeiten an, indem sie gemeinsame Militärübungen, gemeinsame Geheimdienstplattformen und integrierte Verteidigungsstrukturen organisieren. Darüber hinaus werden sich die Golfstaaten weiterhin für transaktionale, begrenzte Mini-Lateral-Abkommen mit Partnern ihrer Wahl einsetzen, wenn es um Koordination und Zusammenarbeit geht. In einer multipolaren Weltordnung wollen sie es vermeiden, sich auf eine Seite zu stellen, um sich alle Optionen offen zu halten und ihre nationalen Interessen zu erreichen. Schließlich erfordert die wirtschaftliche Diversifizierung regionale Stabilität. Da sich die meisten Golfstaaten in einem komplexen sozioökonomischen Wandel befinden, werden sie weiterhin Interesse an Konfliktmanagement und Deeskalation zeigen, um ihre Geschäftsmodelle zu erhalten.
Dr. Sebastian Sons ist leitender Forscher am Bonner Zentrum für angewandte Orientforschung (CARPO) und Experte für die arabischen Golfstaaten. Er promovierte über Arbeitsmigration von Pakistan nach Saudi-Arabien und ist Autor von drei Büchern über die arabischen Golfmonarchien mit besonderem Schwerpunkt auf den Beziehungen zwischen den Golfstaaten und Europa bzw. Deutschland.